Montag, 3. Januar 2022

Und täglich grüßt die Inzidenz

Wir schreiben das Jahr 2022. Mittlerweile hat sich längst überall herumgesprochen, äh - nein, sorry, das muss ich korrigieren:
Mittlerweile hat sich längst überall außer bei unseren Medien (und hier besonders der Frankfurter Rundschau) herumgesprochen, dass die Corona-Inzidenz als alleinige Kennzahl praktisch gar keine Aussagekraft mehr hat. Erst wenn man zusätzlich die Anzahl der dafür verwendeten Tests (also die "Test-Positiv-Rate"), die aktuelle Impf-Rate (und hier besonders die der über 60-Jährigen), die Zahl der Genesenen und die Inzidenz-Aufschlüsselung nach Altersgruppen (denn es macht nun mal einen Unterschied, ob sämtliche Insassen eines Kindergartens oder eines Pflegeheims positiv getestet wurden) kennt und nennt, kann sie als aussagekräftiger Faktor für etwaige drohende Überlastungen des Gesundheitssystems dienen. 

Wesentlich zielführender kann hierfür aber natürlich zusätzlich die Hospitalisierungsrate sein, zumindest, wenn sie nicht durch zweifelhafte Meldemethoden verwässert wird (hier und hier kann man mehr darüber lesen)  - deswegen schrieben die Redaktionen seit dem Frühjahr 2021 zunächst sogar immer diesen Zusatz unter ihre täglichen Inzidenz-Meldungen: "Die Inzidenz war in der Pandemie bisher Grundlage für viele Corona-Einschränkungen, etwa im Rahmen der Ende Juni ausgelaufenen Bundesnotbremse. Künftig sollen daneben nun weitere Werte wie Krankenhauseinweisungen stärker berücksichtigt werden.

Und das schrieben sie seitdem täglich. 

Wochenlang. 

Monatelang. 

Jedes Mal denselben Satz. Natürlich immer unter reißerischen Inzidenz-Schlagzeilen, die einen morgens immer als Erstes begrüßten - z.B. am 19. August 2021 "Inzidenz steigt sprunghaft an". In diesem Fall bedeutete "sprunghaft" von 40,8 auf 44,2 - immerhin ein Anstieg um gut 8%. Wenn die Inzidenz hingegen ein paar Tage später sank (z.B. von 89 auf 78 - also um 12,5%) wurde das mit "Inzidenz sinkt leicht" beschrieben. 

All die Zeit fragte ich mich, wann denn nun endlich die "weiteren Werte" genannt würden, die "künftig stärker berücksichtigt werden" sollten. Und schließlich war es soweit, die Redaktionen meldeten zusätzlich die "Hospitalisierungsrate" - z.B. am 8.11.2021, wo sie bei 3,93 lag. Zusätzlich konnte man täglich diese Ergänzung lesen: "Der bisherige Höchstwert lag um die Weihnachtszeit 2020 bei rund 15,5.

In der FR-Redaktion (und nicht nur dort, wenn man sich "Spiegel", "Süddeutsche" und andere Qualitätsmedien ansieht) muss eine Art "Inzidenz-Fetisch" vorherrschen, denn während zig Quellen wie Corona in Zahlen längst weitere Kennzahlen und einordnende Faktoren aufführten, wurden die steigenden Zahlen fast schon ehrfürchtig proklamiert. Ein Inzidenz-Rekord nach dem anderen wurde gebrochen. Lag er während der erwähnten Weihachszeit 2020, als die Hospitalisierungsrate den Höchstwert von 15,5 erreicht hatte (was damals übrigens einen Anteil von 21% aller Intensivbetten Deutschlands ausmachte, was wiederum knapp 5.700 Betten entsprach), bei 197,6, kletterte er am 30.11.2021 auf schwindelerregende 452. Aber die Hospitalisierungsrate lag selbst da bei gerade mal 5,5 - also etwas mehr als einem Drittel des bisherigen Höchststandes. Selbst dem schlechtesten Matheschüler hätte da eigentlich dämmern müssen, welchen Unterschied hier die Impfquote ausmachte. Eine mehr als doppelt so hohe Inzidenz wie 2020 und trotzdem nur etwas mehr als ein Drittel der bisherigen Intensivbetten-Höchstbelegung? Das musste doch jedem ins Auge springen? Nicht den Redaktionen. Und ich fragte mich immer wieder, wann man dort endlich merken würde, wie lächerlich dieses marktschreierische Festhalten an der Inzidenz war. Selbst eher bedächtige Menschen wie Christian Drosten oder Lothar Wieler hatten längst mehrfach betont, dass eine 200er-Inzidenz bei 0% Impfquote in keinster Weise mit einer Inzidenz von 400 bei einer 70%-Impfquote zu vergleichen sei. Aber eine nachhaltige Wirkung zeigte es natürlich sehr wohl, nämlich auf sehr viele Leser*innen, die in den Kommentarabschnitten der jeweiligen Artikel schlimmste Horrorszenarien ausmalten und betonten, dass sie trotz doppelter Impfung nicht mal mit Masken auf Weihnachtsmärkte gehen würden, weil die Inzidenz ja so hoch sei. 

Tja und mittlerweile haben wir also das Jahr 2022. Fast 2 Jahre leben wir mit Corona. Unsere Medien nennen in ihren Schlagzeilen täglich weiterhin sinnfrei die Inzidenz (und im Artikel darunter mit Glück noch weitere Werte, die eine Einordnung ermöglichen). Und welche Werte nennt die FR nun in ihrer täglichen Wasserstandsmeldung? Genau: Nur noch die Inzidenz. Ausschließlich. Nicht mal mehr die Hospitalisierungsrate wird erwähnt. Und jeder Anstieg wird weiterhin in fetten Lettern verkündet, zum Beispiel heute: "Inzidenz steigt rapide an". "Rapide" bedeutet hier übrigens von 227,2 auf 232,4 - also einen Anstieg um 2%. Oder um es den Autor*innen der FR mal plastisch zu erklären: von 1.000 Menschen hatten vorher rechnerisch 2,27 einen positiven PCR-Test und nun 2,32 - gerundet waren es vorher also 2,3 Menschen und jetzt 2,3. OMG! SHOCKING! GRUSELIG! Was für ein rapider Anstieg! Spiegel-Online macht es leider nicht besser. Dort ist das ein "drastischer Anstieg".

Paradoxerweise muss es aber bei unseren Journalist*innen (und sogar selbst innerhalb der FR-Redaktion) Menschen geben, die die ganz oben genannten Zusammenhänge kennen - denn in anderem Kontext schreiben sie dann auf einmal, dass die Inzidenz alleine ja gar keine Aussagekraft bezüglich des Gesundheitssystems habe - nämlich beim Beispiel Gibraltar, welches Ende November eine 1.000er-Inzidenz aufwies. Kommentar der FR dazu: "Ein näherer Blick auf die Zahlen zeigt allerdings: Dramatisch ist die Situation nicht.". Warum? Ach so, wegen der Impfquote. 

Heute liegt die Inzidenz in Gibraltar übrigens bei 2.015. In Spanien (Impfquote 81%) bei 1.233, in Frankreich (Impfquote 73,3%) bei 1.679 und in UK (Impfquote 69,5%) bei 1.976. Deutschland hat aktuell eine Impfquote von 71,19% und besagte Inzidenz von 232,4 (Höchstwahrscheinlich ist sie natürlich viel höher, aber unsere Gesundheitsämter trennen sich ja nur allmählich von Bleistift, Papier und Fax). Die Hospitalisierungsrate liegt bei 3,07 (alle Zahlen wurden von https://www.corona-in-zahlen.de entnommen).

PS. Mir ist übrigens durchaus bewusst, dass die jeweiligen Corona-Varianten (vom Wildtyp über Alpha bis Omikron) einen faktischen Unterschied bezüglich Infektionsausbreitung und Hospitalisierung ausmachten - das berührt aber in keinster Weise die Kritik an der Inzidenz-Fixierung. Diese wurde bereits um die jeweiligen Phasen der Unsicherheit bzgl. der jeweils neuen Varianten bereinigt. Denn selbst jetzt, wo immer mehr Studien verschiedener Länder zu dem Schluss kommen, dass Omikron zu wesentlich weniger Krankenhauseinweisungen (und Letalität) führt, halten FR und Co. eisern an ihr fest. Wie gut, dass andere Medien (und vor allem Fachleute) mittlerweile im Jahr 2022 angekommen sind und propagieren, die Inzidenz gar nicht mehr zu veröffentlichen. Aber wofür verwenden unsere Qualitätsmedien dann die vielen fetten Buchstaben?

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