Mittwoch, 12. Januar 2022

Warum ich gegen eine "Impfpflicht für alle" bin

Da heutzutage ja bereits von erschreckend vielen Menschen alles, was über die Länge eines Tweets hinaus geht, als "zu lang" bzw. "zu viel Text" empfunden wird, anbei zunächst die Kurzform:

Vorab: Ich war bislang 2x mit BioNTech geimpft und ließ mich heute "Boostern". Trotzdem bin ich gegen eine allgemeine Impfpflicht und zwar aus folgenden Gründen:

  1. Keine Herdenimmunität bzw. Ausrottung des Corona-Virus mit den derzeitigen Impfstoffen möglich.

  2. Es gibt keine grundsätzliche Verpflichtung zum Selbstschutz.

  3. Corona stellt keine allgemeingültige Gefährdungslage dar, die „alle“ (Junge/Alte, Vorerkrankte/Kerngesunde) gleichermaßen betrifft.

  4. Es gilt das Recht auf körperliche Unversehrtheit - welches nur in Abwägung konkret drohender Gefahren verletzt werden darf.

  5. Es wurde allen Wähler*innen versprochen, dass eine Impfpflicht "ausgeschlossen" sei und "unter keinen Umständen" kommt.

  6. Eine Impfpflicht kann ohne nationales Impfregister nicht kontrolliert und ohne echte Sanktionen/Konsequenzen nicht durchgesetzt werden.

  7. Es droht eine verstärkte Spaltung der Gesellschaft.
Wer mehr als nur Überschriften (also Argumente und Begründungen) lesen will, kann das ab hier tun - alle erwähnten Zahlen/Daten bilden den Stand vom 11.-12. Januar 2022 ab:
  1. Im Gegensatz zu den oft verglichenen Impfpflichten gegen Masern (hier gilt die Impfpflicht allerdings gar nicht flächendeckend) und Pocken lässt sich Corona nicht durch die derzeitigen Impfstoffe ausrotten. Schon Ende Juli 2021 (als Israel mit dem Boostern begann) war klar, dass auch in Deutschland nach der 2. MRNA-Impfung nachgelegt werden musste, da der Impfschutz bei manchen Altersgruppen bereits nach 12 Wochen kaum noch Schutz vor einer Ansteckung mit der Delta-Variante bot. Okay, ich gebe zu: Nicht allen war das klar, wie man anhand des grandios verpatzten Booster-Starts sowohl unserer alten als auch unserer neuen Regierung sah, der uns mit Vollgas geradewegs in die 4. Welle reiten ließ. Mittlerweile weiß man aber sogar, dass selbst der Booster keinen großen Schutz vor einer Omikron-Infektion (je nach Pre-Print-Studie wird von 25-60%igem Infektionsschutz gesprochen, der aber ebenfalls nach ein paar Wochen kontinuierlich sinkt), sondern "nur noch" vor einem schweren Verlauf bietet. Und spätestens seit Israel ernüchternde Ergebnisse der dort mittlerweile getesteten 4. Dosis meldet, gibt es keine Evidenzbasierte Begründung mehr, mit diesen Impfstoffen eine allgemeine Impfpflicht zu rechtfertigen.
    Nicht zu vergessen: Auch das RKI schrieb bereits am 22. Juli 2021: "Die Vorstellung des Erreichens einer „Herdenimmunität“ im Sinne einer Elimination oder sogar Eradikation des Virus ist (...) nicht realistisch." Und da war Omikron noch gar nicht bekannt.

  2. Wenn die Impfpflicht also weder eine Corona-Ausrottung noch eine Herdenimmunität gewährleistet, geht es somit nur noch um den Eigenschutz. Darf man aber zu diesem gezwungen werden? Falls ja, müsste auch die Tetanus- und Grippeimpfung verpflichtend sein. Zusätzlich dürfte man weder Alkohol noch Zigaretten, noch extrem zuckerhaltige Lebensmittel verkaufen, denn auch wenn Corona auf dem Höhepunkt der 2. Welle für knapp 5.700 belegte Intensivbetten sorgte, war das "nur" ein Anteil von 22% aller Intensivbetten. Für weitaus mehr Erkrankungen und Todesfälle sorgen jedes Jahr Fettleibigkeit/falsche Ernährung (vor allem durch zu viel Zucker - ergo Diabetes), Rauchen (Gefäßerkrankungen) und Alkohol. Ganz zu schweigen von anderen unheilbaren Nervenerkrankungen wie Multipler Sklerose, Parkinson oder ALS. Auch Geschlechtsverkehr dürfte seitens der Männer niemals ohne Kondom mit ungetesteten Sexualpartnern vollzogen werden, da  ansonsten schwere und unheilbare Erkrankungen drohen - wie Hepatitis C, HIV/AIDS, Tripper, Syphilis u.v.m.

  3. Es ist nicht jeder gleich stark gefährdet - auch das unterscheidet Corona von den Pocken. Schaut man sich die aktuelle Statistik der Corona-Todesfälle an, sieht man, dass in den letzten 2 Jahren insgesamt 23 Kinder unter 10 Jahren an und mit Corona verstarben (darunter 20 mit schweren Vorerkrankungen) aber 95.705 (von insgesamt 112.740 an und mit Covid Verstorbenen) über 70 Jahre alt waren. Das Robert-Koch-Institut schreibt in seinem aktuellen Wochenbericht dazu:
    "Von allen übermittelten Todesfällen seit KW10/2020 waren 95.707 (85%) Personen 70 Jahre und älter, der Altersmedian lag bei 83 Jahren."

    Im Vergleich dazu: "Bislang sind dem RKI 41 validierte COVID-19-Todesfälle bei unter 20-Jährigen übermittelt worden. Diese Kinder und Jugendlichen waren zwischen 0 - 19 Jahre alt. Bei 29 Fällen lagen Angaben zu bekannten Vorerkrankungen vor." Mit welcher Begründung will man also einen 18- oder 19-Jährigen ohne Vorerkrankungen zwingen, sich gegen Corona impfen lassen zu müssen? Ich möchte in diesem Zusammenhang auch noch mal an den Impfstart in Deutschland erinnern: Anfangs hatten wir 4 Impfstoffe, die angeblich alle einen großen Schutz vor Infektion/Weiterverbreitung und Erkrankung boten. Mittlerweile haben wir für unter 30-Jährige und Schwangere nur noch 1, nämlich BioNTech. Moderna ist in diversen Ländern mittlerweile gar nicht mehr zur Impfung zugelassen, bei anderen (wie Deutschland) für alle unter 30-Jährigen "nicht zu verwenden". Zuletzt meldete eine israelische Studie ein Risiko von 1:6637 für junge Männer, nach einer Moderna-Impfung an einer Herzmuskelentzündung zu erkranken. Dass 3/4 davon "meist mild" verlaufen, ist hier nur ein schwacher Trost. Denn selbst wenn man bei einer symptomatischen Corona-Infektion ein noch größeres Risiko hat, an einer Myokarditis zu erkranken, bleibt ja die Frage: Wie groß ist denn überhaupt das Risiko für einen 18-Jährigen, symptomatisch an Corona zu erkranken? Bislang wurden in Deutschland in knapp 2 Jahren 7.581.381 bestätigte Infektionen (wobei hier natürlich auch Mehrfachinfektionen enthalten sind) - bei 83 Millionen Einwohnern - gezählt. Selbst wenn die Dunkelziffer natürlich viel höher sein wird, besteht die dann ja wiederum eher aus asymptomatischen Fällen - die dann offensichtlich auch nicht von Long-Covid oder einer Herzmuskelentzündung betroffen waren.

    Spätestens seitdem bekannt ist, dass Omikron im Vergleich zu Delta (wo ca. 0,7% aller per PCR nachgewiesenen Infektionen intensivmedizinisch behandelt werden mussten) zu deutlich weniger Hospitalisierungen führt ("
    Den vorläufigen Ergebnissen nach fiel das Hospitalisierungsrisiko bei einer Omikron-Infektion insgesamt um bis zu 30 Prozent geringer aus als bei der Delta-Variante. Bei doppelt Geimpften sinkt das Risiko um 34 Prozent, bei Menschen mit einer Boosterimpfung sogar um 63 Prozent. Bei den Ungeimpften sei dieses Risiko um 24 Prozent kleiner."), muss das Kosten/Nutzen-Risiko (nicht nur) bei jungen Menschen neu bewertet werden. Aus den USA werden heute ähnliche Daten gemeldet. Auch wenn Karl Lauterbach weiterhin an seiner seltsamen Aussage festhielt, dass vor allem junge Menschen an Omikron erkranken (was bereits seit Mitte Dezember widerlegt wurde  - ein weiteres Zitat dazu: „Ich weiß nicht, worauf Herr Lauterbach seine Annahme stützt. Es gibt einfach keine belastbaren Daten dazu. Alles, was wir wissen, ist, dass Omikron ansteckender ist“, sagte Dr. Thomas Fischbach vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte/BVKJ am 7.1.2022 zur BILD) , aber was ich von ihm als Gesundheitsminister halte, hatte ich ja mal bereits hier dargelegt - und da war er es noch nicht mal. Auch seine ständige Panikmache vor Long-Covid bei Kindern stellt sich in der Praxis als ebensolche dar. Zitat: "In den drei vorliegenden Studien mit Kontrollgruppe sind Kinder mit SARS-CoV-2-Infektion nicht häufiger von Spätfolgen betroffen als Kinder ohne SARS-CoV-2-Infektion. Die bisherigen wissenschaftlichen Studien zu Long-COVID bei Kindern und Jugendlichen haben erhebliche Einschränkungen. Es ist unklar, ob und in welcher Häufigkeit Long-COVID bei Kindern vorkommt".

  4. Es gilt das Recht auf körperliche Unversehrtheit - welches nur in Abwägung konkret drohender Gefahren verletzt werden darf - anbei einige weitere rechtliche Aspekte dazu.

  5. Seit wann gilt es eigentlich als unfein, wenn Politiker, die bezüglich einer Corona-Impfpflicht plötzlich eine 180-Grad-Wende vollzogen (die diese vorher gar "unter allen Umständen ausschließen" konnten), sich dafür öffentlich in einer Ansprache an alle Wählenden wenn schon nicht zu entschuldigen, dann doch wenigstens zu erklären? Ich finde es unfassbar, mit welcher Arroganz unsere Regierung hier handelt. Wie kann es sein, dass sich Angela Merkel im Frühjahr 2021 an die Bevölkerung wandte, um sich für die dann doch nicht vollzogene Oster-Ruhe zu entschuldigen, aber bei einem so eklatant wichtigen Punkt, bei dem unzählige Menschen monatelang als "Verschwörungstheoretiker" und "Schwurbler" beleidigt wurden, weil sie genau vor dieser Impfpflicht warnten, beziehungsweise dagegen protestierten, erfolgt gar nichts - außer läppischen Zeitungs-Interviews und schmallippigen Antworten in Nachrichtensendungen?

  6. Lauterbach will kein Impfregister aber die Impfpflicht? Aha. Wer soll dann wie kontrollieren, ob jemand tatsächlich geimpft ist oder nicht? Wie genau erfolgt die Kontrolle?
    Und: Es soll zwar Geldstrafen für Impf-Unwillige geben, aber bei Nicht-Zahlung keine Ordnungshaft? Sondern was genau? Gregor Gysi bringt es in diesem Beitrag sehr gut auf den Punkt. Unter diesen Umständen ist die Impfpflicht absolut nicht zielführend.

  7. Ich habe es mittlerweile satt, dass unsere Medienlandschaft fast flächendeckend alle Ungeimpften (außer denen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen dürfen) über einen Kamm schert und diejenigen, die gegen die Corona-Maßnahmen und eine drohende Impfpflicht demonstrieren, als Querdenker, Nazis oder sonst wie Gestörte darstellt. Wenn ein 20-Jähriger für sich zu dem Schluss kommt, dass ihm etwaige Impfnebenwirkungen (oder die Neuartigkeit der MRNA-Impfstoffe an sich) mehr Angst machen als eine Corona-Infektion, ist das erst mal zu respektieren. Das Paul-Ehrlich-Institut meldet (in seinem Bericht zur Sicherheit der Impfstoffe vom 27.11.2020-30.11.2021) Folgendes dazu: "Die Melderate betrug für alle Impfstoffe zusammen 1,6 Meldungen pro 1.000 Impfdosen, für schwerwiegende Reaktionen 0,2 Meldungen pro 1.000 Impfdosen."
    Das entspräche bei Infektionen einer Inzidenz von 20 für schwerwiegende Reaktionen. Dem gegenüber steht die Mehrheit der entweder vollkommen asymptomatisch oder sehr mild verlaufenden Infektionen bei jungen Menschen. 

    Es ist löblich, dass manche Medien Ausnahmen machen und Menschen zu Wort kommen lassen, die sich bisher nicht impfen ließen. Niemand, der halbwegs bei Verstand ist, würde diese Beispiele weiterhin als "Querdenker", "Verschwörungstheoretiker" oder "Reichsbürger" bezeichnen. Ja, natürlich gibt es die und das nicht zu einem geringen Anteil. Wer aber alle Demonstrierenden über einen Kamm schert, liegt genauso falsch wie der, der alle G20-Kritiker- und Demo-Teilnehmer als gewaltbereite Molotow-Cocktail-Werfer kriminalisiert. Freundschaften und Familien enden und zerbrechen an Corona bereits seit 2 Jahren, sei es aufgrund tödlicher Erkrankungen oder tödlicher Diskussionen und Vorwürfen. Es wird Zeit, diese unsägliche Schwarz-Weiß-Malerei aufzubrechen und die bereits bestürzend tiefen Gräben nicht noch breiter zu machen. Dass manche Menschen sich selbsterwählt außerhalb jeglicher zivilisierter und rational vertretbarer Diskussionsrahmen bewegen und wohl fühlen, ist mir dabei durchaus bewusst. Die halte auch ich nicht mehr für erreichbar. Man muss diese Menschen aber auch nicht noch unnötigerweise provozieren, indem man ihnen einen Deckmantel zur Verfügung stellt, der ihre verqueren und teils äußerst gefährlichen Aktionen auch noch "rechtfertigen" könnte.
Ich bin also gegen eine "Impfpflicht für alle". Für durchaus überlegenswert halte ich aber das geplante Vorgehen Italiens und Griechenlands, nämlich eine "Impfpflicht für über 50- oder 60-Jährige" einzuführen. Wenn es darum geht, unser Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen, sollte man dafür sorgen, dass diejenigen, die es am meisten belasten, geimpft sind - und wie alle Zahlen (siehe Punkt 3) belegen, sind es nun mal hauptsächlich sie, die auf den Intensivstationen landen bzw. schwere Verläufe erleben. Allerdings sollte dies bei einer Pflicht nur mit einem Impfstoff durchgeführt werden, der auch tatsächlich einen deutlichen Schutz vor einer Infektion bietet (was aktuell kein Impfstoff gewährleistet, siehe Punkt 1). Und auch dann gilt es, besonders die Punkte 4 und 6 zu berücksichtigen.

Ich halte es jedenfalls für ein absolutes Unding, ständig Druck auf Eltern auszuüben, ihre Kinder impfen zu lassen (es gibt ja sogar bereits Menschen, die die Impfung für unter 5-Jährige fordern und durchführen), solange nicht alle über 60-Jährigen geimpft sind. Denn die müssen geschützt sein - die Kinder nicht (solange sie keiner Risikogruppe angehören). Genau das ist auch die Evidenzbasierte Empfehlung der STIKO.

Mittwoch, 5. Januar 2022

SPIEGEL-Leser wissen mehr

Die meisten Smartphone-Nutzer kennen und nutzen die "News"-Übersicht, die man mit einem Wisch vom Startbildschirm aufrufen kann. Heute fiel mir diese Schlagzeile ins Auge:

Ein Antippen ergab dies:

 und dies:
Der SPIEGEL berichtet auch darüber. Allerdings geht der Text dort etwas weiter:
Ich fühle mich durch die 2. Meldung wesentlich besser informiert. Keine Ahnung, wie viele aber nur die 1. lesen und alle als Querdenker beschimpfen, die sich aktuell lieber noch nicht zum 2. Mal boostern lassen würden.
Und: was bedeutet das eigentlich für die von Lauterbach angedrohte Impfpflicht? Beinhaltet die dann 3 oder 4 Dosen? Ich meine "pro Jahr"?
Und: hieß es nicht immer (z.B. hier und hier), dass die Zahl der Antikörper gar nicht unbedingt entscheidend sei?

Zitat 1 aus den Links: "Selbst eine Studie aus Australien weist ausdrücklich darauf hin, dass es keinen Grund gibt, zu glauben, eine hohe Konzentration an Antikörpern schütze vor einer Erkrankung."
Zitat 2: "Die meisten Expertinnen und Experten sind sich da einig: Eine Antikörper-Bestimmung ist bei gesunden Menschen nicht nötig. Auch die Stiko rät davon ab. Der Hauptgrund: Bisher ist gar nicht wissenschaftlich erwiesen, mit welcher Anzahl an Antikörpern man sicher vor Corona geschützt wäre."

Montag, 3. Januar 2022

Und täglich grüßt die Inzidenz

Wir schreiben das Jahr 2022. Mittlerweile hat sich längst überall herumgesprochen, äh - nein, sorry, das muss ich korrigieren:
Mittlerweile hat sich längst überall außer bei unseren Medien (und hier besonders der Frankfurter Rundschau) herumgesprochen, dass die Corona-Inzidenz als alleinige Kennzahl praktisch gar keine Aussagekraft mehr hat. Erst wenn man zusätzlich die Anzahl der dafür verwendeten Tests (also die "Test-Positiv-Rate"), die aktuelle Impf-Rate (und hier besonders die der über 60-Jährigen), die Zahl der Genesenen und die Inzidenz-Aufschlüsselung nach Altersgruppen (denn es macht nun mal einen Unterschied, ob sämtliche Insassen eines Kindergartens oder eines Pflegeheims positiv getestet wurden) kennt und nennt, kann sie als aussagekräftiger Faktor für etwaige drohende Überlastungen des Gesundheitssystems dienen. 

Wesentlich zielführender kann hierfür aber natürlich zusätzlich die Hospitalisierungsrate sein, zumindest, wenn sie nicht durch zweifelhafte Meldemethoden verwässert wird (hier und hier kann man mehr darüber lesen)  - deswegen schrieben die Redaktionen seit dem Frühjahr 2021 zunächst sogar immer diesen Zusatz unter ihre täglichen Inzidenz-Meldungen: "Die Inzidenz war in der Pandemie bisher Grundlage für viele Corona-Einschränkungen, etwa im Rahmen der Ende Juni ausgelaufenen Bundesnotbremse. Künftig sollen daneben nun weitere Werte wie Krankenhauseinweisungen stärker berücksichtigt werden.

Und das schrieben sie seitdem täglich. 

Wochenlang. 

Monatelang. 

Jedes Mal denselben Satz. Natürlich immer unter reißerischen Inzidenz-Schlagzeilen, die einen morgens immer als Erstes begrüßten - z.B. am 19. August 2021 "Inzidenz steigt sprunghaft an". In diesem Fall bedeutete "sprunghaft" von 40,8 auf 44,2 - immerhin ein Anstieg um gut 8%. Wenn die Inzidenz hingegen ein paar Tage später sank (z.B. von 89 auf 78 - also um 12,5%) wurde das mit "Inzidenz sinkt leicht" beschrieben. 

All die Zeit fragte ich mich, wann denn nun endlich die "weiteren Werte" genannt würden, die "künftig stärker berücksichtigt werden" sollten. Und schließlich war es soweit, die Redaktionen meldeten zusätzlich die "Hospitalisierungsrate" - z.B. am 8.11.2021, wo sie bei 3,93 lag. Zusätzlich konnte man täglich diese Ergänzung lesen: "Der bisherige Höchstwert lag um die Weihnachtszeit 2020 bei rund 15,5.

In der FR-Redaktion (und nicht nur dort, wenn man sich "Spiegel", "Süddeutsche" und andere Qualitätsmedien ansieht) muss eine Art "Inzidenz-Fetisch" vorherrschen, denn während zig Quellen wie Corona in Zahlen längst weitere Kennzahlen und einordnende Faktoren aufführten, wurden die steigenden Zahlen fast schon ehrfürchtig proklamiert. Ein Inzidenz-Rekord nach dem anderen wurde gebrochen. Lag er während der erwähnten Weihachszeit 2020, als die Hospitalisierungsrate den Höchstwert von 15,5 erreicht hatte (was damals übrigens einen Anteil von 21% aller Intensivbetten Deutschlands ausmachte, was wiederum knapp 5.700 Betten entsprach), bei 197,6, kletterte er am 30.11.2021 auf schwindelerregende 452. Aber die Hospitalisierungsrate lag selbst da bei gerade mal 5,5 - also etwas mehr als einem Drittel des bisherigen Höchststandes. Selbst dem schlechtesten Matheschüler hätte da eigentlich dämmern müssen, welchen Unterschied hier die Impfquote ausmachte. Eine mehr als doppelt so hohe Inzidenz wie 2020 und trotzdem nur etwas mehr als ein Drittel der bisherigen Intensivbetten-Höchstbelegung? Das musste doch jedem ins Auge springen? Nicht den Redaktionen. Und ich fragte mich immer wieder, wann man dort endlich merken würde, wie lächerlich dieses marktschreierische Festhalten an der Inzidenz war. Selbst eher bedächtige Menschen wie Christian Drosten oder Lothar Wieler hatten längst mehrfach betont, dass eine 200er-Inzidenz bei 0% Impfquote in keinster Weise mit einer Inzidenz von 400 bei einer 70%-Impfquote zu vergleichen sei. Aber eine nachhaltige Wirkung zeigte es natürlich sehr wohl, nämlich auf sehr viele Leser*innen, die in den Kommentarabschnitten der jeweiligen Artikel schlimmste Horrorszenarien ausmalten und betonten, dass sie trotz doppelter Impfung nicht mal mit Masken auf Weihnachtsmärkte gehen würden, weil die Inzidenz ja so hoch sei. 

Tja und mittlerweile haben wir also das Jahr 2022. Fast 2 Jahre leben wir mit Corona. Unsere Medien nennen in ihren Schlagzeilen täglich weiterhin sinnfrei die Inzidenz (und im Artikel darunter mit Glück noch weitere Werte, die eine Einordnung ermöglichen). Und welche Werte nennt die FR nun in ihrer täglichen Wasserstandsmeldung? Genau: Nur noch die Inzidenz. Ausschließlich. Nicht mal mehr die Hospitalisierungsrate wird erwähnt. Und jeder Anstieg wird weiterhin in fetten Lettern verkündet, zum Beispiel heute: "Inzidenz steigt rapide an". "Rapide" bedeutet hier übrigens von 227,2 auf 232,4 - also einen Anstieg um 2%. Oder um es den Autor*innen der FR mal plastisch zu erklären: von 1.000 Menschen hatten vorher rechnerisch 2,27 einen positiven PCR-Test und nun 2,32 - gerundet waren es vorher also 2,3 Menschen und jetzt 2,3. OMG! SHOCKING! GRUSELIG! Was für ein rapider Anstieg! Spiegel-Online macht es leider nicht besser. Dort ist das ein "drastischer Anstieg".

Paradoxerweise muss es aber bei unseren Journalist*innen (und sogar selbst innerhalb der FR-Redaktion) Menschen geben, die die ganz oben genannten Zusammenhänge kennen - denn in anderem Kontext schreiben sie dann auf einmal, dass die Inzidenz alleine ja gar keine Aussagekraft bezüglich des Gesundheitssystems habe - nämlich beim Beispiel Gibraltar, welches Ende November eine 1.000er-Inzidenz aufwies. Kommentar der FR dazu: "Ein näherer Blick auf die Zahlen zeigt allerdings: Dramatisch ist die Situation nicht.". Warum? Ach so, wegen der Impfquote. 

Heute liegt die Inzidenz in Gibraltar übrigens bei 2.015. In Spanien (Impfquote 81%) bei 1.233, in Frankreich (Impfquote 73,3%) bei 1.679 und in UK (Impfquote 69,5%) bei 1.976. Deutschland hat aktuell eine Impfquote von 71,19% und besagte Inzidenz von 232,4 (Höchstwahrscheinlich ist sie natürlich viel höher, aber unsere Gesundheitsämter trennen sich ja nur allmählich von Bleistift, Papier und Fax). Die Hospitalisierungsrate liegt bei 3,07 (alle Zahlen wurden von https://www.corona-in-zahlen.de entnommen).

PS. Mir ist übrigens durchaus bewusst, dass die jeweiligen Corona-Varianten (vom Wildtyp über Alpha bis Omikron) einen faktischen Unterschied bezüglich Infektionsausbreitung und Hospitalisierung ausmachten - das berührt aber in keinster Weise die Kritik an der Inzidenz-Fixierung. Diese wurde bereits um die jeweiligen Phasen der Unsicherheit bzgl. der jeweils neuen Varianten bereinigt. Denn selbst jetzt, wo immer mehr Studien verschiedener Länder zu dem Schluss kommen, dass Omikron zu wesentlich weniger Krankenhauseinweisungen (und Letalität) führt, halten FR und Co. eisern an ihr fest. Wie gut, dass andere Medien (und vor allem Fachleute) mittlerweile im Jahr 2022 angekommen sind und propagieren, die Inzidenz gar nicht mehr zu veröffentlichen. Aber wofür verwenden unsere Qualitätsmedien dann die vielen fetten Buchstaben?