Sonntag, 30. Mai 2010

Lena und ihre Landsleute

Ich oute mich: Ja, ich habe mir gestern Abend den "Eurovision Song Contest" angesehen. Zwar nicht komplett, aber nach dem eher langweiligen Fußballspiel der Deutschen Nationalmannschaft zappte ich rüber und blieb hängen. Seit ich dem Alter entwachsen bin, in dem man alle Anlässe dankbar mitnimmt, länger aufbleiben zu dürfen, habe ich mir diese Veranstaltung gerade noch 3x angesehen (nämlich als Raab jeweils seine Finger im Spiel hatte, den ich für einen großartigen Musiker und Produzenten halte) - einfach, weil das normalerweise überhaupt nicht meine Musik ist.

Und ich wurde positiv überrascht: Da waren einige Songs und Interpreten darunter, die mir gefielen. Zwar nicht dergestalt, dass ich mir jetzt unbedingt die dazugehörige CD bestellen würde, aber ich würde sie auch nicht wegwerfen, wenn man sie mir schenkte (das soll jetzt aber keine Aufforderung sein ;-). Zudem gefiel mir die (für einen solchen Contest) erfrischend witzige Art der ModeratorInnen, die ihre Rolle als Gastgeber wirklich wohltuend "anders" und kecker ausfüllten als viele ihrer Vorgänger - und Peter Urbans Off-Kommentare waren meist auch sehr unterhaltsam.

"Unsere" Lena gewann. Das freut mich. Es macht mich nicht stolz, ich fühle mich dadurch auch nicht privilegierter, aber es freut mich: Für Stefan Raab, der über seinen Schatten sprang und eine Zusammenarbeit mit der ARD durchzog, für Lenas Fans und vor allem natürlich für Lena selbst.

Wie gehen aber nun ihre (und meine) Landsleute mit diesem Sieg um? Mittels heroischer Recherche innerhalb der zwei meistgeklickten (besser: meistbesuchten) deutschen Online-Foren kämpfte ich mich tatsächlich durch jeden veröffentlichten Beitrag. Es handelt sich hierbei übrigens um die von BILD und dem SPIEGEL.

Interessanterweise wird in beiden jeweils dasselbe geschrieben - allenfalls anhand der unterschiedlichen sprachlichen Fähigkeiten der Poster (aber das überrascht ja nicht wirklich) erkenne ich, in welchem Forum ich mich gerade befinde.

Jetzt, nachdem ich mich durch ca. 90 Seiten (also ca. 600 "Beiträge") gekämpft habe, stelle ich fest, dass es genau 4 Meinungstypen gibt:

Der "Ich will mich nicht freuen und die anderen dürfen das auch nicht"-Nörgler:
  • Jeder der Ahnung von Musik hat (also er) hat gesehen, dass die anderen Länder viel bessere SängerInnen, Songs und Choreographien/"Perfomances" hatten. Lena hingegen hat gar keine Stimme (oder allenfalls eine schlechte) und tanzen kann sie auch nicht. Und ihr Lied ist ja nicht mal auf Deutsch, dabei kann sie gar kein Englisch. Und der Song wurde ja auch von Amerikanern geschrieben und überhaupt hat Deutschland alle anderen Jurys und "Voter" durch seine Milliardenhilfen bestochen (deswegen bekamen wir ja von Griechenland und Portugal auch so viele Punkte, gelle?). Und außerdem war das Licht viel zu dunkel und Lena ist eine eingebildete, arrogante Zicke, die "sich noch mal umgucken wird"
Der "Lena hat Europa geschlagen und einen vernichtenden Sieg für Deutschland eingefahren"-Spinner:
  • Lena hat allen gezeigt, wer die Nummer 1 in Europa ist. Das tut Deutschland gut. Nach all den schlechten Nachrichten endlich wieder ein Sieg. Die ganzen "Pornogören aus dem Ostblock" und die "fetten Quallen aus Irland und Island" hatten keine Chance. Und die "Neger aus Frankreich" auch nicht. Schade, dass sie nicht Deutsch gesungen hat. Jetzt werden "wir" auch Weltmeister
Der "Ich betrachte die ganze Veranstaltung als unter meiner Würde und schau mir sowas sonst nie an"-Schizophrene:
  • So eine peinliche, niveaulose Veranstaltung kommentiere ich erst gar nicht (brauche dafür aber mindestens 30 Zeilen). Das hat doch alles gar nichts mit Musik oder gar "Kunst" zu tun. Allein die schreckliche englische Aussprache dieser Lena, an meiner Privatschule in Eton wäre sie durch die Englischprüfung gefallen. Das Lied ist - gerade verglichen mit den "Köln-Concerts" von Keith Jarrett - vollkommen substanzlos. Dieser Stefan Raab unterwandert jetzt also auch noch die letzte Bastion des deutschen Bildungsfernsehens, nämlich die öffentlich-rechtlichen Sender. Zum Glück habe ich meinen Fernseher schon vor 3 Jahren verbrannt. "Fresst Scheiße, Millionen Fliegen können sich nicht irren!" Gute Nacht, Deutschland!
Der "Mir hat die Veranstaltung großen Spaß gemacht und ich freue mich total für Lena"-Schreiber:
  • Lena hat Europaweit viele Jurys und Zuschauer begeistert. Musik ist nun mal Geschmackssache und ihr Auftritt hat den meisten Leuten gefallen, also hat sie verdient gewonnen. Ja, ihre englische Aussprache ist nicht perfekt, aber Herman van Veens und Wolfgang Niedeckens Deutsch sind es auch nicht - und innerhalb von Europa ist Englisch nun mal der gemeinsame sprachliche Nenner. Ihr Geheimnis war, dass sie außer sich selbst und ihrem Lied nichts verkaufen wollte: Keine Peitschen, keine brennenden Reifen, kein Silikon und kein sonstiges Image. Einfach nur eine natürliche, attraktive junge Frau (wie man sie in jeder x-beliebigen Stadt treffen kann) auf einer Bühne, die ihren (durchaus ins Ohr gehenden) Song singt und dabei strahlt.
Zu dem letzten Typ zähle ich mich. Auch wenn ich das weder bei BILD noch bei SPIEGEL geschrieben habe. Dafür schreibe ich es hier: Ich freue mich für Lena!

5 Kommentare:

  1. wie wahr, wie wahr! Man fragt sich manchmal echt...mir fehlen eigentlich selbst dazu die Worte, was diese Typen der Gattung 1 - 3 wollen!

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  2. 90 Seiten größtenteils hirnverbrannte Kommentare bezwungen (und nebenbei brillant analysiert): Respekt.

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  3. Wow, respekt!
    ich finds gut, dass die anderen sichtweisen nicht außer acht gelassen wurden und sich mal wirklich mit dem thema befasst, bevor eine meinung gebildet wurde!

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